Ist das meine Zukunft?

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Wie versprochen, hier der zweite und nicht ganz so puderzuckrige Bericht über meine Japanerfahrungen.

Denn man kann fast alles, was mir so positiv erscheint und zu schwärmerischen Eskapaden hinreißt, auch negativ betrachten. Und sollte man vielleicht auch hin und wieder, denn nicht umsonst hat Japan weltweit die höchste Selbstmordrate unter Jugendlichen. Es scheint, die schöne neue Welt ist nicht für alle so schön. Viele Faktoren kommen hier zusammen, aber vor allem darf man nicht vergessen, dass sich das Land seit 20 Jahren in der Rezession befindet und von allen Ländern weltweit unter dem größten Schuldenberg ächzt. Die Staatsverschuldung in Relation zum BIP betrug 2014 sagenhafte 243,52%, im Vergleich dazu ist Griechenland mit 173,81% ein wahres Waisenkind (Quelle: de.statista.com). Selbstmordraten sind auch immer ein Spiegel der Gesellschaft in der Krise und wenn man sich vor Augen führt, dass Selbstmord in Japan die häufigste Todesursache bei Jugendlichen zwischen 15 und 24 ist, muss das zwangsweise zu denken geben.

Was bewegt so viele, in Zahlen über 30.000 jährlich, in ihrer Verzweiflung nur den einen Ausweg in den Freitod zu sehen?

Tief gehende psychische Probleme sind im Endeffekt die zugrundeliegenden Auslöser für solche Handlungen. Bei vielen der Opfer ihrer Selbst ist eine Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPD) diagnostiziert worden. Nur ist es sicher zu einfach zu sagen „die waren krank“, lieber stellt man sich die Frage, woher kommt eine plötzlich sich so weit verbreitende Krankheit. Am meisten werden auf diese Frage der bereits im Vorschulalter beginnende Leistungsdruck, Mobbing in der Schule, ein stressiger Lebensstil und wirtschaftliche Probleme genannt.

Der Leistungsdruck fängt in Japan schon ganz früh an. Kinder werden von ihren Eltern zu immer besseren Leistungen gepusht, was auch daran liegt, dass die Schulen schon ab der Vorschule umfangreiche und besonders anspruchsvolle Aufnahmetests durchführen. Wer diese Tests nicht besteht, dem ist bereits mit 5 Jahren der Weg in eine sichere Zukunft verbaut – so zumindest denken viele Eltern. Aber auch derjenige, der alle Stufen und Aufnahmetests wie Schulen und Universitäten mit Bravour gemeistert hat, hat noch einmal unheimlich schwere und aufwendige Bewerbungsprozesse vor sich, bis er am Ende endlich einen der so sehr gewünschten Festanstellungs-Verträge unterschrieben in den Händen hält. Denn auch heute noch heißt eine feste Stelle ein gesichertes Einkommen, welches sich von Jahr zu Jahr bis ans Lebensende ein wenig steigert. Und da diese Art Anstellungsvertrag eigentlich für kaum ein Unternehmen noch zeitgemäß und finanziell auf Dauer verkraftbar ist, gibt es davon immer weniger.

Das bedeutet also, dass Jobsuche und Bewerbungsprozess in Japan eine besondere Belastung für die jungen Erwachsenen darstellt. Viele finden auch zwei Jahre nach erfolgreich abgeschlossenem Studium keine feste Arbeitsstelle. Diese und all jene, die nicht in das elterlich und gesellschaftlich erwünschte Schema passen oder auf dem Weg irgendwo durch das Raster gefallen sind, müssen sich auf dem freien Markt eine Einkommensmöglichkeit suchen. Und davon gibt es unzählige. So genannte part-time-jobs kann jeder überall finden und auch schnell bekommen. Nur sind diese in der Regel so schlecht bezahlt, dass man mindestens zwei bis drei davon benötigt, um auch nur im Ansatz davon leben zu können. An das Ernähren einer Familie womöglich ist jedoch nicht zu denken. Erschwerend kommt hinzu, dass die Lebenshaltungskosten sich noch nicht dem Krisenniveau angepasst haben. Nirgendwo sind die Mieten derart hoch wie im Zentrum Tokios. Die wirtschaftliche Angst ist ständiger Begleiter unter den Jugendlichen und führt in der weiteren Konsequenz zur Vereinsamung und Isolation. Denn wenn das Leben rein aufs Überleben reduziert ist, dann ist eine Partnerschaft oder gar Familiengründung nebensächlich und vor allem nicht finanzierbar.

Das zeigt sich auch in den niedrigen Geburtenraten. Ja stimmt, diese gehen überall in der industrialisierten Welt zurück, aber nirgendwo so radikal wie in Japan. Wenn überhaupt, dann bekommen die Paare, die es denn zueinander schaffen, ein Kind. Auf das fokussiert sich dann aller Druck, alle Ängste, Hoffnungen und Wünsche und außerdem werden soziale Umgangsformen, die der Kontakt und das Aufwachsen mit Geschwistern automatisch formt, nicht mehr erlernt. Aber auch das von mir vorher so gelobte Wahren der Privatsphäre kann als Desinteresse gesehen werden. Wenn alle darauf bedacht sind, den Anderen nicht zu stören, dann werden auch Probleme ganz schnell und sicher auch bewusst übersehen. Viele würden vielleicht gerne mal über Ängste und Sorgen oder gar Nöte sprechen, aber das verbietet der gesellschaftliche Kodex, einander nicht mit z. B. persönlichen Sorgen zu belasten. Man bleibt für sich und oftmals einsam.

Wir Menschen sind womöglich nicht dafür gemacht, wie kleine Arbeitsbienen, geschäftig und immer im Dienste des Großen Ganzen, unser Dasein auf Arbeit und das Wahren des schönen Scheines zu beschränken. Womöglich? Nein ganz sicher nicht und auf einmal ist man dankbar dafür, dass sich doch eine gewisse und stetig wachsende Community von jungen Japanern ein etwas schöneres und lebenswerteres Leben außerhalb der Realität in der schönen, bunten und freundesreichen Welt der Manga Comics sucht. Ist das Weltflucht? Ja sicher ist es das. Doch wenn diese Flucht in eine andere, schönere Welt dazu führt, dass weniger junge Menschen zum Sterben in einen Park knapp außerhalb Tokios pilgern, wer sind wir, das zu verurteilen. Und warten wir mal ab, auch unsere Wirtschaft ist seit Jahren in der Krise. Auch unsere Notenbank druckt unentwegt neues Geld und kauft marode Staatsanleihen in Milliardenhöhe auf – ja, nix Neues, alles in Japan schon längst geschehen.

Wenn ich also von der schönen neuen Welt nach japanischem Vorbild schwärme, möge man als kleine Fußnote anmerken „be careful what you wish for“… Wir werden sehen!

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